Lebenswege entstehen

Nach meiner Schulzeit an der Freien Waldorfschule Schwäbisch Hall war es für mich zunächst sehr bewegend, nach dem Abitur im Sommer 2009 von so vielen liebgewonnenen Menschen Abschied zu nehmen und mir bewusst zu werden, was für ein wunderschöner Lebensabschnitt gerade zu Ende gegangen war. Viele hatten schon Pläne, manche hatten sich eingeschrieben, viele zog es ins Ausland und so wurde auch mir klar, dass es für mich irgendwo anders weitergehen würde, da zuhause nur noch wenige der alten Freunde und Klassenkameraden waren.

So schrieb ich recht spontan eine E-Mail an zahlreiche Institutionen weltweit – von einem Schäferbetrieb in Australien über eine anthroposophische Einrichtung am Schwarzen Meer bis zur deutschen Botschaftsschule in Peking: Junger Mann, 19 Jahre alt, sucht einen Ort, um für ein Jahr eine neue Kultur kennenzulernen und neue Menschen zu begegnen. Es kamen viele spannende Rückmeldungen, was ich nicht gedacht hätte! Da wir in der Schule als Klassenspiel einmal den Chinesischen Kreidekreis aufgeführt hatten und mich außerdem die alte Sprache, die Kunst und Kalligraphie sowie die Philosophie interessierten, nahm ich das Angebot eines Praktikums an der Botschaftsschule in Verbindung mit einem Au-Pair in Peking an. Überwältigt von den vielen Menschen und dem wahrlichen Gewusel dort, dauerte es etwas sich neu zu orientieren – schnell fand ich die Liebe zum Zeichnen wieder, die sich in der Schule schon angebahnt hatte und ich zeichnete zahlreiche chinesische Portraits und entdeckte nebenbei die chinesische Gartenkunst mit ihren wunderschönen Lotusgärten für mich und das von tausenden Menschen am Morgen praktizierte Qi-Gong. Auch Chinesisch lernte ich Tag für Tag besser, jedenfalls mündlich. Das war eine ergreifende Erfahrung, wenngleich ich feststellen musste, dass mein Russisch aus der Schule dabei mehr und mehr verdrängt wurde und in den Hintergrund geriet. Auch das war eine wertvolle Erfahrung: Nichts gerät in Vergessenheit, was man sich über so viele Jahre angeeignet hat, es darf aber auch wieder in den Hintergrund treten und die Bühne für neue Entdeckungen freigeben. 

Die deutsche Sprache wurde mir in diesem Jahr in China übrigens noch bewusster als zuvor, eben da sie nicht selbstverständlich um mich herum war! So las ich viel in Thomas Manns Zauberberg und bewunderte dessen feinen und detaillierten Sprachstil. So reifte während des Jahres die Entscheidung, Lehramt zu studieren und mich meinen liebsten Beschäftigungen, der Kunst und dem Zeichnen, dem Lesen und der Literatur sowie der Natur noch intensiver zu widmen, um diese irgendwann einmal so weiterzugeben, wie ich selbst davon in meiner Schulzeit inspiriert wurde.

In Heidelberg schrieb ich mich für Kunst, Deutsch und Biologie ein und verbrachte dort intensive Studienjahre. Die Sorge, von der Waldorfschule nicht gut genug vorbereitet zu sein erwies sich wirklich als Trugschluss, letztlich machte ich sogar in unserem Jahrgang von 200 Studenten den besten Abschluss. Vielmehr erwies sich mein umseitiges Interesse, meine lebendige Begeisterung und der in der Waldorfschule vermittelte Umstand, sich nie von externen Ansprüchen zu sehr unter Druck setzen zu lassen als genau die richtige Mischung für die Universität!

Im Anschluss an mein Studium auf Realschule absolvierte ich noch in Landau den Master fürs Gymnasium, hier wurde die Kunst noch einmal intensiviert – in Anlehnung an meine Chinareisen töpferte ich zahlreiche chinesische Teetassen und Teekannen im japanischen Raku-Stil und erlebte die Herausforderung auf mehreren größeren Ausstellungen meine Werke zu präsentieren.

Mittlerweile bin ich nun im Schulalltag angekommen und unterrichte an einer Gemeinschaftsschule in der Nähe von Heidelberg. Wenngleich ich nicht mehr so viel Zeit für meine eigene Kunst habe, so ist es doch in der Schule nun jedes Mal ein schönes Gefühl, wenn einige Schüler mit einer Idee aus dem Kunstunterricht gehen, oder tolle Projekte und Werke entstehen, wenn wir in Biologie auf Exkursion sind und Pflanzen und Tiere kennenlernen, oder in Deutsch Theaterstücke auf die Bühne bringen. Da mir meine Freunde und Familie sowie viele meiner Hobbys, wie Chinesisch oder das Draußen in der Natur sein nach wie vor sehr wichtig sind, arbeite ich nur 70% und habe so das Gefühl eine zu mir passende Mischung zwischen Beruf und Freizeit zu haben.

Ein Hauptthema, dass sich bereits bei der Seminarkurszeit in der Schulzeit angebahnt hat, ist übrigens die Arbeit mit Heilpflanzen. Damals erstellten wir in unserer Gruppe daraus viele wunderbare Produkte und beschäftigten uns mit Pflanzen, Wurzeln, Blüten und deren Signaturen – mittlerweile bin ich meinem damit verbundenem Vorbild Wolf-Dieter Storl weiter gefolgt und stelle in meinem kleinen Weinberg in Heidelberg Kräutertees aus selbst gesammelten Kräutern her und verkaufe diese auf dem Weihnachtsmarkt.

So war die Zeit an der Waldorfschule für mich in vielen Dingen eine prägende Grundsteinlegung meiner Persönlichkeit und ich denke immer wieder gerne voll Dankbarkeit an die vielen Inspirationen und Begegnungen von damals zurück, die ich nun im weiteren Verlauf meines Lebens aufgreifen und erweitern durfte.